Führen in exponentiellen Zeiten
Was holakratisch geführte Organisationen ausmacht – ein Interview mit Patrick Scheuerer – Teil 2
Für diesen Blogbeitrag habe ich mit Patrick Scheuerer gesprochen. Er begleitet Organisationen und Unternehmen bei der Einführung und Umsetzung des holakratischen Organisationsmodells. Patrick ist Transformation-Guide, Certified Holacracy-Coach und Experte für Selbst-Management und dezentrale Unternehmensführung.
Im zweiten Teil dieses Interviews erklärt Patrick wie sich Holakratie auf die persönliche Entwicklung der Mitarbeitenden auswirkt und welche Hemmnisse ihn immer wieder bei der Einführung erwarten. Außerdem sprechen wir über die Chancen und Herausforderungen, die dieses Organisationsmodell birgt und warum implizite Annahmen kein Gewicht haben.
Diese 7 Punkte schauen wir uns näher an:
- Was wichtiger ist als Mindset: Die Praxis
- Selbstmanagement: Die Grundregeln für persönliche Entwicklung
- Wo liegen die größten Hemmnisse?
- Grenzen überwinden: Die Herausforderungen in der Praxis
- Von der Einsamkeit zur Verantwortung: die komplexe Rolle der Führungskraft
- Wieviel Führung braucht es noch?
- Implizite Annahmen haben kein Gewicht
Wichtiger als das Mindset ist die Bereitschaft, Holakratie zu praktizieren
Holakratie wird inzwischen in allen Branchen praktiziert. Von non-profit, über ganz normale privatwirtschaftliche Unternehmen, Große, Kleine, Startups, gestandene KMUs, also die volle Bandbreite.
Was es aber braucht ist jemand an der Spitze, der sagt, „ich möchte das einführen. Ich möchte meine Organisation in diese Richtung führen. Ich glaube, dass das dem Unternehmen dient, oder es unterstützt, seinen Sinn und Zweck besser erfüllen zu können als so, wie wir es bisher organisiert haben.“ Und es braucht natürlich auch eine Bereitschaft der ganzen Mannschaft, die sich auf den Aufbau dieser Praxis einlassen muss.
„Ich bin immer ein bisschen skeptisch, was diese Mindset-Frage angeht. Muss jemand wirklich ein bestimmtes Mindset haben, damit man starten kann? Man muss eine gewisse Offenheit haben, um einfach mal zu starten. Aber ich würde nicht sagen, dass man „erleuchtet“ sein muss, um Holacracy praktizieren zu können. Ganz viel der Mindset-Entwicklung passiert im Prozess. Das beobachten wir immer wieder und das finde ich sehr spannend.
Wir müssen einen guten Rahmen schaffen, der hilft, neue Praktiken einzuüben und sich daran zu halten. Idealerweise sind da noch andere Menschen, die das auch praktizieren und die sich gegenseitig unterstützen. Alle diese Faktoren gibt es in einer holakratischen Organisation. Deswegen beobachten wir sehr häufig, dass sich die Menschen sehr stark entwickeln und reifer werden. Aber das ist der Effekt einer längeren Praxis.“
Interessant ist, dass die persönliche Entwicklung einfach passiert. Es steht in keiner Holakratie-Verfassung irgendein Wort in Bezug auf persönliche Entwicklung, oder dass jemand ein agiles Mindset haben müsste. Sondern da stehen ein paar ganz grundlegende Regeln. Die Arbeit muss priorisiert werden, es gibt gewisse Pflichten und Rechte. Und wenn man die über geraume Zeit systematisch praktiziert, dann gibt das tendenziell den Effekt, dass das zu einem Entwicklungsprozess führt. Es ist ein positiver Nebeneffekt, der entsteht.
„Wenn wir uns ehrlich überlegen, was bei uns psychologisch passiert, wenn uns jemand sagt, wir sollten an unserem Mindset arbeiten. Dann haben wir doch sofort das Gefühl: wir sind nicht gut genug so wie wir sind. Es entstehen sofort ganz viele negative Effekte auf psychologischer Ebene. Und das ist genau das, was Holakratie eben nicht macht. Es sagt nicht, du musst jetzt erstmal eine andere Person werden, um richtig arbeiten zu können. Sondern es sagt einfach: „schau mal, hier sind die Spielregeln, halte dich daran, so gut du es kannst und versuche, immer besser zu werden.“ That’s it.
Und dadurch, dass man das tut, entwickelt man sich.“
Wo liegen die größten Hemmnisse?
Sind wirklich die Führungskräfte die größten Skeptiker, wenn es darum geht Macht abzugeben?
Eine spannende Frage: Ich kann nicht unterschreiben, dass grundsätzlich die Führungskräfte die größte Skepsis haben. Und ich glaube, das ist auch nachvollziehbar. Weil, in unserer Kultur ist immer noch die Tendenz sehr groß, Führung und Führungskräfte so ein bisschen zu glorifizieren. Das heroische Führungsbild ist immer noch sehr verbreitet. Wenn man aber mit Führungskräften im Alltag unter vier Augen spricht und schaut wie geht es denen in ihrer Rolle als Führungskraft, dann merkt man relativ schnell, dass es überhaupt nicht so glamourös und glanzvoll und heroisch ist, sondern dass da auch sehr viel Leiden drinsteckt, sehr viel Einsamkeit, sehr viel Zerrissenheit zwischen unterschiedlichen Interessenlagen. Führungskraft in einer konventionellen Organisation zu sein ist für die allermeisten kein Spaß, sondern erstmal harte Arbeit.
Und was wir immer wieder beobachten, ist, dass auch Führungskräfte, sobald sie verstanden haben und sehen, was Holacracy bietet, sehr offen reagieren und sehr schnell die Spielregeln für sich zu nutzen wissen und dann mit den anderen zusammen ihre Führungsarbeit und ihre Führungsrolle besser ausüben können.
„Ich finde es immer sehr inspirierend, wenn ich sehe, was diese Praxis eigentlich ermöglicht. Wie sie Menschen in die Lage versetzt, Dinge besser, einfacher, schneller und unkomplizierter zu tun. Ohne dass ständig diese negativen, belastenden Nebeneffekte entstehen, die häufig in konventionellen Organisationen auftauchen.“
Am Anfang ist es einfach eine Frage der Übung. Erstmal fühlt sich das neu und ungewohnt an. Es erscheint den meisten unnatürlich und ein bisschen komisch. Vor allem die ersten Meetings, die nach einem sehr klaren Prozess ablaufen. Der ist für die allermeisten sehr anders, als dass sie das gewohnt sind.
Auf einmal gibt es eine klare Regelung, wer wann sprechen darf. Welche Themen in welcher Reihenfolge behandelt werden. Es gibt eine sehr klare Struktur. Um die einzuhalten, gibt es eine explizite Rolle der Prozessmoderation, des Facilitators. Diese Rolle ist nur dazu da, in diesen Meetings den Prozess zu halten, so wie er in der Verfassung beschrieben ist. Und es braucht natürlich auch ein bisschen Übung, um das gut machen zu können. Deshalb übernehmen wir am Anfang meistens diese Rolle in Meetings. Später bekommen dann Leute aus der Organisation ein Training um diese Rolle übernehmen zu können.
Von der Einsamkeit zur Verantwortung:
Die komplexe Rolle von Führungskräften
Meistens wird nach drei bis vier, vielleicht fünf Monaten ein tieferliegender Wandel bei den Menschen sichtbar. Es ist spannend zu sehen, wie die Beteiligten anfangen Verantwortung zu übernehmen. Für viele ist das cool, weil sie immer mehr Verantwortung wollten, die sie jetzt haben. Aber auch in schwierigen Situationen oder bei schwierigen Entscheidungen können sie jetzt einfach zum Chef oder zu Chefin rennen.
Da stellt sich dann die Frage: o.k., was mache ich denn jetzt? Und das sind dann eben genau die Situationen, die sich erstmal schwierig anfühlen und wo es Überwindung braucht. Aber genau hier passiert dann auch wirklich viel Wachstum, wenn man sich darauf einlässt.
Und auf Seite der Führungskräfte ist es genauso ein Thema. Da beobachten wir häufig, dass in der ersten Phase die Führungskräfte erstmal entweder gegen die Regeln ankämpfen oder sich ganz rausnehmen. Die führen dann halt gar nicht mehr.
Wir arbeiten mit ihnen genau auf diese Gratwanderung hin, dass sie trotzdem involviert bleiben, dass sie weiter führen, dass sie Einfluss nehmen, dass sie sich für ihre Rollen einsetzen, aber dass sie das auf eine Art und Weise tun, wie das mit den Spielregeln konform ist. Sie müssen lernen: „wie nutze ich jetzt diese Spielregeln, diese Grundregeln der Verfassung, um wirkungsvoll im Sinne meiner Rolle Einfluss zu nehmen und sie zu führen.“
Und viele der Skills, die Führungskräfte schon mitbringen sind nach wie vor wichtig. nützlich und relevant. Das sind die zentralen Faktoren, auf die wir in der Begleitung in den ersten sechs bis zwölf Monaten vor allem achten.
Effektive Zusammenarbeit durch systematische Einhaltung der Regeln
Oder: wieviel Führung braucht es noch?
„Auch diese Frage wird häufig missverstanden. Man liest in den Medien auch häufig Schlagzeilen wie „Firma schafft die Führung oder die Chefs ab“. Aber das ist eine zu stark vereinfachte Betrachtung. Wenn wir die Verfassung mal genau anschauen, dann werden wir relativ schnell merken, dass Holocracy Führung nicht abschafft, sondern dass Holocracy Führung verteilt.“
In Holacracy, man könnte sogar sagen, in holakratischen Unternehmen gibt es deutlich mehr Führung als in konventionellen Organisationen. Weil jede Person eine Führungskraft ist. Wir nennen das nicht mehr Führungskraft, in Holacracy heißt das Rollenlead. Also, jede Person, die eine Rolle übernimmt, ist automatisch der Rollenlead. Und damit trägt er oder sie die Verantwortung dafür, diese Rolle zu führen. Das heißt, dafür zu sorgen, und zwar alleine, ohne einen Chef oder eine Chefin oder ein Managementboard, das drübersteht.
Demzufolge braucht es die bestehenden Führungskräfte noch und es gibt noch viele neue zusätzliche Führungskräfte, nämlich alle Mitarbeitenden. Die die vorher geführt wurden, führen jetzt auch.
So wird Führung wird zu einem dynamischen Prozess. Es gibt Momente, in denen werde ich geführt, weil ich mich zum Beispiel an den Vorgaben einer Rolle meiner Kollegin orientiere und vielleicht ein paar Stunden später gibt es eine andere Interaktion, in der meine Rolle führend ist. Und so wechselt sich eigentlich dieses Führen und Geführtwerden vom Kontext abhängig, von der Situation abhängig permanent ab.
Es gibt eine ganz grundlegende Regel in der Verfassung.
Und die heißt: „implizite Annahmen haben kein Gewicht.“
Das ist so ein kleiner Hack, den sich eigentlich jeder mitnehmen kann, auch wenn er nicht holakratisch organisiert ist. Einfach mal als Grundregel des alltäglichen Zusammenarbeitens, implizite Regeln haben kein Gewicht.
„Ich habe natürlich auch Verständnis, dass das in vielen Organisationen nicht so häufig gemacht oder nicht so gut gemacht wird. Weil wenn wir uns das mal ein bisschen genauer angucken, ist es ein ziemlich anspruchsvoller Prozess, Dinge in einem sozialen Kontext explizit zu machen. Man will ja niemandem auf den Schlips treten.“ Hier hilft die klare Unterscheidung von Rolle und Person und die klaren Meeting-Strukturen, die einem auch einen gewissen Rahmen und Halt geben. Ich erwarte also nichts von einer bestimmten Person, sondern von einer bestimmten Rolle. Und das macht es deutlich einfacher, diese Dinge auch explizit zu machen.
Benötigte Informationen müssen explizit ausgedrückt und formuliert werden – das erfordert Struktur, einen Rahmen und Disziplin
Die grundsätzliche Regel bei Holacracy ist immer die gleiche. Wenn du etwas erwartest dann musst du es explizit machen. Das heißt, wenn ich von irgendjemandem regelmäßig über etwas informiert werden möchte, dann kann ich diese Erwartung explizit machen, indem ich sie einfach kommuniziere.
Implizite Erwartungen haben kein Gewicht
Ein sehr befreiender Satz, wenn man sich das mal zu Herzen nimmt. Die Welt muss wissen, dass ich das erwarte, sonst kann sie sich schlecht daran richten. Und meistens ist es keine faire Annahme, dass ich der Welt meine Erwartungen einfach so überstülpen kann, sondern idealerweise haben die auch noch was dazu zu sagen und können sich aus freien Dingen auf eine Regelung und Vereinbarung einlassen.
„Und genau das machen wir auf Rollenbasis, über den Governance-Prozess. Außerdem wird in Version fünf der Verfassung noch ein weiteres neues Element, nämlich die Beziehungsvereinbarungen zwischen Menschen geregelt. Z.B. wie gehen wir mit der Beantwortung von Mails um? Das kann ich dir aber auch nicht einfach überstülpen, sondern ich kann sie dir anbieten und dann musst du deine Zustimmung geben. Erst dann gilt die Regel. Das sind ein paar grundlegende Regeln um auf eine reife, erwachsene Art und Weise Vereinbarungen miteinander treffen. Offen, respektvoll, transparent.“
Überleben ist freiwillig – auch das Wirtschaftliche
Oder: wie lange wird es noch dauern, bis sich diese Form der Unternehmensführung durchsetzen kann?
„Ich bin was das angeht sehr großer Pragmatiker. Die Frage ist doch, dient den Firmen die Art wie sie organisiert sind noch oder blockiert es sie eher? Ich sage immer: überleben ist freiwillig, niemand muss überleben, es ist freiwillig, ob man überleben will als Organisation.
Wenn ich überleben möchte in einem Kontext, der von exponentiellen technologischen Entwicklungen und von immer größer werdenden disruptiven Kräften bestimmt ist, wenn ich in so einem Kontext handlungsfähig bleiben möchte, dann ist die Frage eine ganz pragmatische:
Was hilft mir jetzt? Welche Formen der Zusammenarbeit und der Organisation helfen mir, und machen die Wahrscheinlichkeit höher, dass ich in so einem Kontext weiterhin wirkungsvoll handeln kann und erfolgreich sein kann als Unternehmen?“
Und wenn man das ganz nüchtern und objektiv versucht zu betrachten, dann sieht man, wie in einer konventionellen Managementhierarchie rein strukturell und systemtheoretisch die Grundmuster in dieser Organisation wirken. Wenn nämlich gewissermaßen auf einer Ebene keine Handlungsfähigkeit mehr hergestellt werden kann oder wenn keine Entscheidung mehr getroffen werden kann und der nächste sinnvolle, gewünschte oder notwendige Schritt nur noch dann zustande kommt, wenn man es auf die nächsthöhere Stufe eskaliert.
Das funktioniert super, wenn das Ausnahmeerscheinungen sind. Also, wenn in der Regel die Menschen gut in der Lage sind, solche Konflikte zu lösen. Aber wenn einfach die Welt so ungewiss wird und es so viel mehr Abstimmung braucht, dass diese Eskalationen stark ansteigen und dann immer mehr solcher Eskalationen auf eine immer dünner werdende Organisation nach oben trifft, dann ist völlig klar, das führt zu einem Spannungsstau. Also Spannung im Sinne von Dingen, die es zu regeln gibt, Probleme, die es zu lösen gilt. Gelegenheiten, die es zu nutzen gilt. All das betrachten wir als Spannung.
Und wenn eine Organisation nicht mehr in der Lage ist, die auftretenden Spannungen adäquat zu verarbeiten, dann wird sie früher oder später daran ersticken. Und das ist das, was wir in vielen konventionellen Organisationen heute beobachten, dass sie nicht mehr in der Lage sind, die auftretenden Spannungen adäquat und in nützlicher Frist zu verarbeiten.
„Und das ist genau das, was Holocracy eben ermöglicht. Dass Spannungen, egal wo sie auftreten, einfach, schnell und zuverlässig bearbeitet werden können. Und das macht einen sehr großen Unterschied in der Art und Weise, wie Unternehmen auf solche dynamischen Kontexte reagieren können.“